Vielleicht sollten wir mehr darüber reden?!

In den letzten Wochen haben verschiedene Werbekampagnen versucht, den Lehrer:innenberuf attraktiver zu machen. Völlig zu recht ärgerten sich Kolleg:innen insbesondere in Baden-Württemberg darüber, offenbar in einem Beruf zu arbeiten, für den mit Schriftzeilen wie „keinen Bock auf deinen Job?“ geworben wurde. Auch wenn das Ministerium zurückruderte und erklärte, damit seien Menschen gemeint, die „keinen Bock“ auf ihre aktuelle Arbeit hätten, blieb ein seltsamer Nachgeschmack. Auch in Bayern verunglückten Kampagnen grandios: „Mit Sicherheit und Freiheit flexen“ – hingewiesen wird auf freie Nachmittage und die zunehmend an Bedeutung verlierende Sicherheit des Beamtentums. Willkommen im Jahr 1950 bei Oberstudienrat Dr. Müller, Latein und Deutsch. Morgens recht und nachmittags frei.

Die Frage, ob Werbeagenturen Schulen von innen sehen oder Lehrkräfte in ihrem Alltag begleiten, bevor sie ans Werk schreiten, vermag ich nicht zu beantworten – ich fürchte aber: Nein. Anders lassen sich die klischeebehafteten Plakate kaum erklären. Gleiches gilt für viele (boulevard)journalistische Beiträge über Schulen, Lehrkräfte und Unterricht – gern dekoriert mit diesem einen Bild der pferdeschwanzbezopften dauerlächelnden Lehrerin vor vollgeschmierter Kreidetafel. Ob es lohnenswert ist, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen und das Berufsfeld – vielleicht für die nächste Plakataktion – etwas umfassender zu erläutern? Ich versuche es – und hangele mich dabei als Strukturgeber an den Handlungsfeldern des Kerncurriculums für den Vorbereitungsdienst des Landes NRW entlang – und erläutere, wie die praktische Umsetzung in meinem Berufsalltag aussieht.

Unterricht für heterogene Lerngruppen gestalten und Lernprozesse nachhaltig anlegen

Klingt super, ist anspruchsvoll und erfordert beides- die Fähigkeit, Unterricht vorab nachhaltig zu planen und in und mit der Lerngruppe vor Ort adaptiv umzusetzen. Phasenweise in Instruktion, phasenweise in Lernbegleitung, phasenweise moderierend. Immer in Bewegung und geistig und physisch präsent. Und nein, das Begleitheft zum Schulbuch kennt nicht die Besonderheiten von 33 Individuen in einer Lerngruppe. Hier ist Handwerk gefragt – und inwiefern der Quereinstieg das während der Berufstätigkeit umfassend vermitteln kann, darüber gibt es m.E. noch keine Studien.

Für diejenigen, die ab und an Workshops moderieren (um einen unscharfen Vergleich mit anderen Berufsgruppen zu wagen): Ein Tag mit acht Stunden Unterricht bedeutet die Vorbereitung auf vier bis sechs zeitlich minutiös umrissene Workshops mit Teilnehmer:innen völlig unterschiedlichen Alters, aus unterschiedlichen Milieus, zu unterschiedlichen Themen in unterschiedlicher Gemütslage, die diese Veranstaltungen nicht immer freiwillig besuchen – mit sensibler Handhabung struktureller Machtungleichgewichte. Ein Tag mit acht Stunden Unterrichtet bedeutet Sozialkontakt mit 120 bis 150 unterschiedlichen Menschen, bedeutet viele Namen, Schicksale und Vorlieben im Kopf haben, verschiedene Register ziehen, vom Hoch- in den Tiefstatus wechseln, möglichst mit allen Menschen Blickkontakt haben, mit möglichst vielen einmal sprechen, Beziehung herstellen, Gipsbeine beschriften, über Schmerzen bei Zahnspangen trösten, während die Hauptmelodie beim Investiturstreit, Heines Exillyrik oder der Sinnhaftigkeit multilateraler Bündnispolitik spielt.

Den Erziehungsauftrag in Schule und Unterricht wahrnehmen

Hinter dem etwas antiquierten Begriff des Erziehens verbirgt sich mehr als normative pädagogische Einflussnahme oder „erzieherische Maßnahmen“ im Sinne des Schulgesetzes. Zu diesem Aspekt gehört in meinen Augen vor allem, den Beziehungsauftrag ernst zu nehmen, da nur auf der Ebene einer guten Bindung Bildung gelingen kann. Zum „Erziehen“ gehört weiterhin der Balance-Akt zwischen den Bedürfnissen des Individuums und der Sozialisation in eine Gruppe, die man sich in der Regel nicht ausgesucht hat.

Erziehen in einer Zeit des erstarkenden Rechtspopulismus und trumpesken Regierungshandelns bedeutet nicht zuletzt Lernen durch Demokratie und Kompetenzen für Demokratie als Gesellschaftsform. Die Erfahrung, dass demokratisches Handeln lange Aushandlungsprozesse benötigt, das narzisstische Ego zu kränken vermag und sich nicht mit konsumistischer Zurücklehnung und Phlegma verträgt. Auch das – Aufgabe aller Lehrkräfte.

Lernen und Leisten herausfordern, dokumentieren, rückmelden und beurteilen

Ein Aspekt des Berufs, der noch mehr Freude machen könnte, wenn er in Schule nicht dauerhaft damit verbunden wäre, das vielfältige Leistungsvermögen von Menschen zu schematisieren und in ein Spektrum von 1 bis 6 zu pressen. Lernprozesse zu gestalten, zu begleiten, Leistung zu ermöglichen – in vielfältiger Form, Feedback zu geben – ein zentraler Bestandteil des Berufs. Es ist immer wieder beeindruckend, zu welchen Leistungen Menschen in der Lage sind, wie sie über sich hinauswachsen, wenn sie Feuer gefangen haben für ein Thema: Wenn sie auf Bühnen stehen, Ausstellungen eröffnen, Mitschüler:innen etwas erklären oder sich in der Schulkonferenz argumentativ hieb- und stichfest für ihre Belange einsetzen. Und es ist manchmal erschreckend, zu welchen Häufchen Mensch Schüler:innen zusammensacken, wenn eine unglücklich verlaufende Klausur oder Phasen schulischer Misserfolge den Selbstwert beeinträchtigen. Unter anderem deshalb mein Engagement für eine Modifikation schulischer Prüfungskultur.

Schülerinnen und Schüler und Erziehungsberechtigte beraten

Dieses Handlungsfeld – das ist meine Überzeugung – kommt in der ersten und zweiten Phase der Lehrer:innenausbildung viel zu kurz. Angehende Lehrkräfte lernen im besten Fall, Unterrichtsgespräche zu führen und eine Unterrichtsstunde zu moderieren, aber professionelle Gesprächsführung ist etwas, in das man investieren sollte, weil es einen Unterschied macht, ob ich meine Rolle reflektiere, mir bewusst ist, dass Menschen Situationen auf der Basis ihrer Lebens- und Berufsbiographien deuten (in Schule ist das besonders ausgeprägt, weil alle sie durchlaufen haben), wenn ich in der Lage bin, den anderen und seine Wirklichkeitsdeutung im Kontext seiner Situation zu sehen und dabei meine eigene Innenwelt nicht aus dem Blick zu verlieren. Mir haben eineinhalb Jahre berufsbegleitende Fortbildung die Augen beim Blick auf mein eigenes Gesprächsverhalten geöffnet und dabei geholfen, ein Bewusstsein für unterschiedliche Gesprächssituationen zu entwickeln und das Gefühl zu haben, mit Gesprächen etwas bewirken zu können. Analog gilt das übrigens auch für alle weiteren Ebenen in Schule. Wer es als Leitung schafft, empathisch, zielorientiert und authentisch zu kommunizieren, trägt massiv zu einem guten Schulklima bei.

Im System Schule mit allen Beteiligten entwicklungsorientiert zusammenarbeiten

Ein von Journalist:innen wie von Kolleg:innen (und Lehrerverbandspräsidenten) gern genutzter Topos ist der, Lehrkräfte sollten sich doch bitte wieder „aufs Kerngeschäft“ konzentrieren und nicht so viel „Klimbim“ nebenbei machen müssen. Diese Aussage negiert nicht nur die Verantwortung für die bereits aufgezählten Aspekte, sondern auch, dass es die Aufgabe aller Lehrkräfte ist, Schule und Unterricht nicht bewahrpädagogisch zu fixieren, sondern adaptiv zu reagieren – auf multiple und einander überlagende Krisen und globale Transformation, und auf eine Zukunft vorzubereiten, die zunehmend ungewiss ist.

Das heißt auch: Kooperation von Lehrkräften initiieren (wer die Autonomie-Paritäts-Muster von Lehrkräften kennt, weiß, welche Arbeit damit verbunden ist), Meetings für erwachsene (!) Arbeitsgruppen gut vorbereiten, moderieren, Projektpläne entwickeln, ihre Umsetzung verfolgen und in regelmäßigen Abständen evaluieren. Diese Tätigkeiten sind das Gegenteil von „Klimbim“ – sie sind elementar für die Weiterentwicklung von Schule und Unterricht.

Menschen in Schulleitung tun gut daran, hier einen besonderen Fokus zu legen und Ambidextrie zu üben: Das Vorhandene verwalten und optimieren und die Zukunft gestalten. Wenn man Schule oft vorwirft, Entwicklungen zu verschlafen (BNI, Digitalisierung, aktuell KI), so liegt das oft auf der verkrampften Konzentration auf das „Kerngeschäft“.

Disclaimer: Dieser Verweis auf das vermeintliche „Kerngeschäft“ führt häufig auch dazu, dass sich in Schulentwicklungsprojekten immer wieder dieselben Personen finden, deren Schultern offenbar breiter, deren Atem länger und deren intrinsische Motivation stärker ist. Noch einmal: Es wäre die Aufgabe aller.

Vielfalt als Leitlinie und Querschnittsaufgabe

In allen Handlungsfeldern relevant ist Vielfalt in ihrer Mehrdimensionalität. Das bedeutet, bei der Gestaltung von Lernsituationen zu berücksichtigen, dass Menschen und ihre Bedürfnisse unterschiedlich sind. Es bedeutet, in der Vorbereitung wie in der schriftsprachlichen und mündlichen Gestaltung des Unterrichts Rücksicht darauf zu nehmen, dass bei der Erarbeitung des mittelalterlichen Lehnswesens der Sohn der Mediävistikprofessorin im selben Raum sitzt wie der aus der Ukraine geflüchtete Mitschüler. Es bedeutet, Klassenfahrten zu planen, bei denen 300 Euro für die einen aus der Portokasse bezahlt werden können und bei den anderen einen Antrag beim Sozialamt erfordern. Rücksicht darauf zu nehmen, dass beim Theaterbesuch die einen den entsprechenden Habitus problemlos an den Tag legen, während die anderen fragen, wo man das Popcorn kaufen kann – und das wahrzunehmen, ohne Schmunzeltwitter zu betätigen.

Es bedeutet auch, Schule diversitätssensibel zu gestalten, sich immer wieder vor Augen zu halten,, dass Schule ein Ort ist, an dem struktureller Rassismus reflektiert werden muss. Es bedeutet, Klassenräume zu Safe Spaces zu machen. Und vor bedeutet es anzuerkennen, dass die andere ganz anders ist als ich selbst es bin. Und in der Lage sein, das nicht als Belastung, sondern Bereicherung wahrzunehmen. An manchen Tagen gelingt es, an anderen will man daran verzweifeln.

Ganz schön viel, oder? Klar, dass das nicht auf ein Werbeplakat passt. Aber etwas mehr Mühe könnte man sich schon geben, ein Berufsfeld zu erfassen, das für mich eben wegen dieser Vielfalt zu einem der schönsten der Welt gehört. Auch wenn das System Schule an unzähligen Stellen ins Jahr 2023 transformiert werden müsste. Aber dazu ist bereits mehr als genug geschrieben worden ;-).

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