2020 – oder: Passiert etwas, wenn nichts passiert?

Seit Tagen, nein, seit Wochen möchte ich bloggen. Keinen Jahresrückblick, kein kritisches Abwägen, inwiefern diese Pandemie dazu beitragen kann, Schule und Unterricht zu verändern oder doch alles beim Alten bleibt. Vielleicht möchte ich nur verstehen, warum am Ende eines Jahres, in dem es nicht nur in meinem Kopf sehr viel gearbeitet hat, am Ende nur kleine Veränderungen stehen.

Schule ist ein sehr stabiles und sehr komplexes soziales System

Nicht erst die Pandemie hat uns gezeigt, dass die Strukturen von Schule offenbar sehr stabil sind. Wenn man sich die von außen schon fast absurden Anstrengungen anschaut, diese Strukturen aufrecht zu halten, so kann man nicht anders als zu konstatieren, dass über Jahrhunderte an dieser Stabilität gearbeitet wurde und das System für viele Menschen offenbar immer noch eine gute Lösung darstellt. Wofür auch immer: Als Ort der Kinderbetreuung, Auffangbecken für prekäre Verhältnisse, Gewaltprävention, Stätte der gesicherten Nahrungsaufnahme, Küchentisch-Ersatz, soziale Begegnung, Stabilität des Alltags, Garant für künftiges wirtschaftliches Wachstum und hohe Jahreseinkommen in einer weiterhin vom Wachstumsgedanken dominierten ersten Welt.

Das, was Insassen dieses Systems für höchst relevant halten, beispielsweise Bildung und Lernen, Resilienz, der Umgang mit Kontingenz, die Frage, wie wir auf globale Herausforderungen wie die Klimaerwärmung reagieren können, die primär unsere Kinder und Enkel betreffen werden, davon war erschreckend wenig zu hören. Allenfalls ging es um Schrumpfformen all dessen, den an Schulbuchmetern abmessbaren Stoff, um Lernrückstände (was immer das sein soll – klingt wie schlecht gespültes Geschirr, an dem noch die Bratensoße von gestern klebt).

Nun kommt man der Komplexität eines stabilen Systems nicht dadurch bei, dass man sich über sie beklagt oder versucht sie zu beseitigen. Was aber auffällig war und ist: Die Komplexitätsbewältigungsstrategien, die im politischen und medialen Diskurs aus dem Ärmel geschüttelt wurden, erwiesen sich an vielen Stellen als sehr stark trivialisierend und die vielfältigen Herausforderungen (und damit meine ich nur am Rande Covid-19) nicht ansatzweise aufgreifend: Ob es um das Festhalten am Präsenzunterricht in großen Lerngruppen bei atemberaubend hohen Inzidenzen ging, das Insistieren darauf, dass Schule der in der Pandemie wohl sicherste und wichtigste Ort der Welt sei, am Beharren auf traditionellen Formen der Leistungsüberprüfung an eben diesem sicheren Ort, der Bezeichnung aller Lernenden zwischen 0 und 25 als „Kinder“, deren psychisches Wohlergehen unabdingbar von der präsentischen Anwesenheit der frontal dozierenden Lehrkraft (Gruppenarbeiten wurden vielfach als nicht aerosolkonform und zu kontaktverfolgungsintensiv abgetan) abhängig sei.

Angemessene Formen der gestuften Präsenz, die man vom Alter der Lernenden, der Ausstattung der Schule, der Erfahrung mit selbstständigem Lernen, den Lernvorlieben der Schüler*innen hätte abhängig machen können, wurden teilweise als „zu komplex“ (keine Ironie) abgetan.

In diesem sehr schönen Video erklärt der leider viel zu früh verstorbene Peter Kruse verschiedene Wege der Bewältigung von Komplexität; besonders gut gefallen mir die letzten Minuten, in denen er davor warnt, Komplexität mit Intuition zu bewältigen, die die Entscheider vor Jahrzehnten erworben haben. An manchen Tagen habe ich mich gefragt, ob genau das passiert: Menschen treffen Entscheidungen auf der Basis ihrer intuitiven Wahrnehmung von Schule als gesellschaftliche Aufbewahr- und Reproduktionsanstalt im analogen Raum (und werden darin von schlecht funktionierenden Lernplattformen, Störungen in eigenen Videokonferenzen und die Wahrnehmung von Kontrollverlust in Social Media PR bestätigt).

Ein agiles Mindset allein hilft an Schule wenig

Wenn Schule in den letzten Monaten gelobt wurde, dann vor allem für eines: Regelkonformität. Unsere Rolle als Lüftungsmanager, Maskenkontrolleurinnen, Sitzplanprotokollanten, Kontaktnachverfolgerinnen haben wir mit Bravour bewältigt. (Ganz am Rande: Wenn ich hätte Wärterin werden wollen, hätte ich einen anderen Beruf gewählt.) Schule ist ein Ort, an dem Regeln eine große Rolle spielen. Auf vielen Ebenen. Die formalen Regeln sind dabei nur eine Stufe. Für das Funktionieren im Alltag wichtiger sind die informellen Regeln: Wer muss wen kennen, um von kleinen Vorteilen im Alltag zu profitieren? Nicht nur wegen der hohen Unterrichtsbelastung sind die ersten Berufsjahre die vielfach schlimmsten, auch wegen der Nichtkenntnis der informellen Regeln. Neben den formalen und informellen Regeln – ja, ich behaupte, viel schlimmer und anstrengender, weil selten thematisiert ist die Kultur der Schule als latentes und oft kraftraubendes Regelsystem. Markus Orths lässt in seiner Satire „Lehrerzimmer“ den Schulleiter über die vier Säulen des Schulsystems referieren: Angst, Jammer, Schein und Lüge.

„Die Lüge, sagte er gleich zu Beginn, das solle ich verinnerlichen, sei das Elixier der Schule. […] Er sähe darin, dass ich nicht die Wahrheit sagte, andere Qualitäten. Er sähe den guten Willen, den ich an den Tag legte, den guten Willen, mich dem System zu beugen, meine Bereitschaft, das Spiel mitzuspielen. Wehe aber, sagte er nun, ich würde bei der Wahrheit bleiben. Die Wahrheit sei ein offener Affront, eine Revolution, ein Schlag in seines, des Direktors Gesicht. Die härtesten Maßnahmen hätte er zu treffen im Falle einer Wahrheitskonfrontation.“

Im günstigsten Fall – so wie hier – wird die Kultur expliziert, was – wenn man es oft genug tut – dazu führt, dass sie nicht mehr funktioniert. Im ungünstigsten Fall spielen alle weiter mit: melden sich Kolleg*innen krank, weil sie nicht wissen, wie sie die Klausurberge anders bewältigen sollen. Unterricht wird – da der Einzelkampf die Schulkultur dominiert und fachlicher Austausch rar ist – mithilfe von Kopiervorlagen und Lehrerbegleitheften vorbereitet, Schüler*innen erwerben Lektürebegleithefte und am Ende steht eine vorhersehbare Klausur, deren Ergebnisse eigentlich schon irgendwo „fest“stehen, weshalb man die Schüler*innen – das ist Teil der Spielregeln dieser Kultur – auch davon abhalten muss, diese Ergebnisse abzuschreiben.

In diesem Jahr habe ich zwei Dinge noch einmal sehr deutlich gemerkt: Erstens: Diese Kultur macht blöd, weil sie Einzelmenschen und ihr Denken und Handeln im Kontext des Systems vielfach stärker bestimmt als ihr Charakter und ihre Haltung. (Manchmal habe ich mich in diesem Jahr gefühlt wie Jim Carrey als Truman Burbank.)

Zweitens: Wenn sich an Schule etwas ändern soll, muss sich auf verschiedenen Ebenen etwas am Regelsystem ändern. Es hilft nur bedingt, Lehrer*innen ein agileres Mindset zu predigen, wenn das Regelsystem der Kultusbürokratie eine hundertprozentige Replikation der alten Regeln im Ausnahmezustand der Pandemie praktiziert. Die Perturbation muss alle Ebenen erreichen.

Entscheidungsträger im schulischen System handeln kontextgebunden, nicht als Individuen

Mehr als einmal habe ich in diesem Jahr darüber nachgedacht, wie es möglich sein kann, dass Menschen unterschiedlicher Parteien in vergleichbaren politischen Positionen völlig abstruse (weil wenig bis gar nicht evidenzbasierte) Aussagen über Schule treffen können – uneingedenk ihrer Ausbildung und beruflichen Qualifikation. Ich habe über Menschen in schulischen und schulverwaltenden Positionen gestaunt, deren individuelle Absichten ich meinte zu kennen, die sich den alten Mustern jedoch willig ergaben. Einfach wäre es, all diesen Menschen ihre Kompetenz abzusprechen. Mir erscheint das jedoch zu trivial: Viel deutlicher zeigt sich, dass hier ein System in sich selbst gefangen zu sein scheint und interessante Abwehrmechanismen auffährt, um sich nicht mit Veränderung auseinandersetzen zu müssen: Die Lehrkräfte seien nicht kompetent genug (für das Lernen im digitalen Raum – mag sein. Aber sie sind Lerner), wir schaffen keine Schultransformation in der Pandemie (vorher aber offenbar auch nicht), das haben wir doch längst (Logineo NRW beispielsweise), die Schüler*innen seien aber so unselbstständig (war das nicht auch ein Ziel von Schule, Menschen unabhängiger von unserer permanenten Intervention zu machen?). Wer wirksam sein möchte, kann vermutlich nicht anders als ein Stück weit gemäß der Zuschreibungen des Schulsystems zu handeln – und sollte aber doch gleichzeitig gegen die Organisation denken und deren Praktiken auf Zeitgemäßheit und Sinnhaftigkeit hinterfragen. Im Krisenmodus kommt mir letzteres eindeutig zu kurz.

Und nun? Hände in den Schoß und resigniert geseufzt? Wer mich kennt, weiß, dass das nicht ich bin. Wenn ich mir für 2021 aber etwas vornehme (und ich bin vorsichtig mit Vorsätzen), so ist es das, die Störungen, die ich vornehme, noch mehr zu systematisieren und die Folgen zu beobachten. Bedeutet wohl auch, mehr zu bloggen ;-). I

2 Kommentare zu „2020 – oder: Passiert etwas, wenn nichts passiert?

  1. Danke für den klugen Beitrag.
    Woher nimmst du noch die Kraft, das System zu stören und im besten Sinne zu perturbieren? Ich habe inzwischen resigniert. Das Rennen gegen die vielen Wände hat mich mürbe gemacht. Für mich geht es nur noch ums Überleben. Ich bekomme jetzt schon wieder Puls, wenn ich daran denke, wann wir vermutlich über das weitere Vorgehen nach den Weihnachtsferien informiert werden (NRW). Und dann von einem auf den anderen Tag performen müssen. Wie auch immer.
    Ich wünsche mir, dass die Verantwortlichen uns endlich ernst nehmen und ein bisschen mehr Vertrauen schenken. Aber ich glaube nicht mehr daran.

    Viel Glück und Erfolg für dein neues Jahr und deine Vorsätze. Ich drücke die Daumen.

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